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DER FALL DR. THILO SARRAZIN (11/2012)

 

 

Herr Dr.Thilo Sarrazin ist Mitglied in der SPD.

Er hat ein Buch mit dem Titel “Deutschland schafft sich ab” geschrieben und veröffentlicht.

An verschiedenen Stellen dieses Buches behauptet er, dass die “Fähigkeiten des Gehirns”, die “geistigen Fähigkeiten”sowie die “Persönlichkeitsmerkmale” der Menschen vererblich seien.

An noch mehr Stellen des Buches wird er nicht müde, diese These zu konkretisieren, indem er - ganz der alten Weisheit, die Wiederholung sei die Mutter des Studiums, folgend - in den verschiedensten Variationen wiederholend behauptet, dass die “Intelligenz”, das “Temperament”, die “Begabung”, die “Mentalität”, die “Traditionen” und der “Charakter” des Menschen “teilweise”, “zum Teil” und genauer sogar “zu 50 bis 80 Prozent” (!) erblich bzw. genetisch bedingt seien.

Die Hauptaussage von Herrn Sarrazin, nämlich dass die“Fähigkeiten des Gehirns”, die “geistigen Fähigkeiten” sowie die “Persönlichkeitsmerkmale” der Menschen vererblich seien, stimmt voll und ganz überein- übrigens nicht zufällig - mit dem Postulat aller rassistischer Theorien. Das “Lexikon der Politik, Band 1 Politische Theorien” von Prof. Dr. Dieter Nohlen charakterisiert die Ideologie des Rassismus unter anderem damit, dass sie“pseudowissenschaftliche Analogieschlüsse aus der Biologie” ziehe und dass für sie die Fähigkeiten des Gehirns, die geistigen Fähigkeiten, die geistigen Eigenschaften sowie die Persönlichkeitsmerkmale wie “Begabung und Charakter (...) als  von der erbbiologischen Ausstattung determiniert” gelten.

Die Übereinstimmung dieser Definition mit der Hauptaussage von Herrn Sarrazin springt sofort ins Auge und was noch wichtiger ist: Herr Sarrazin ist sich dieser Übereinstimmung selbst bewusst.

Um diese Übereinstimmung zu verschleiern, schmückt er seine Behauptungen mit dem Zusatz aus, dass die “Fähigkeiten des Gehirns”, die“geistigen Fähigkeiten” sowie der“Persönlichkeitsmerkmale”nicht in ihrer Gesamtheit vererbt werden, sondern die Vererbung hier lediglich “teilweise”, “zum Teil” oder gar zu “50 bis 80 Prozent” zu Buche schlägt.

Die über sein gesamtes Buch hinweg mehrmalige (und auf die Dauer wirklich langweilige) Wiederholung dieses Zusatzes - nämlich, dass die Vererbung lediglich “teilweise”, “zum Teil” oder zu “50 bis 80 Prozent” stattfindet - darf den aufmerksamen Leser nicht täuschen. In Wirklichkeit ist es so, dass die Intelligenz entweder vererblich oder nicht vererblich ist - ein Mittelweg dazwischen gibt es nicht. Für rassistische Theorien ist die Antwort auf diese Frage eindeutig: für sie ist Intelligenz vererblich. Wie Herr Sarrazin die Dinge hin- und herdrehen und scholastisch über seinen Zusatz der teilweisen Vererbung fabulieren mag: an den verschiedenen Stellen seines Buches kommt immer wieder zum Vorschein, dass dieser Zusatz für Herrn Sarrazin nur ein unwesentlicher Punkt seiner gesamten Theorie ist, dass er für seine gesamte Theorie und seine weiteren Gedankengänge keine Rolle spielt und dass daher die Intelligenz in letzter Instanz für ihn bedingungslos vererblich ist.

Beispielsweise lässt er auf den Seiten 98-99 seines Buches die Katze aus dem Sack. Er schreibt: “Für den Zusammenhang, um den es hier geht, ist es egal, ob die Erblichkeit von Intelligenz bei 40, 60 oder 80 Prozent liegt. Denn ganz gleich, wie die Intelligenz zustande kommt: Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit.” Das bedeutet: Entscheidend ist für ihn hier lediglich, dass die Intelligenz - ohne Wenn und Aber - vererblich ist und dass sich diese Vererblichkeit in der “durchschnittlichen Intelligenz der Grundgesamtheit” niederschlägt.

Auch wenn der Zusatz, dass die Intelligenz nur “teilweise”, “zum Teil” oder zu “50 bis 80 Prozent” vererbt wird, für die gesamte Theorie und die weiteren Gedankengänge von Herrn Sarrazin keine wesentliche Rolle spielt, ist er dennoch nützlich für Herrn Sarrazin selbst. Wie und wo ist er ihm nützlich? Die Antworten hierauf sind einfach:

  • Eine Teilantwort wurde bereits oben angedeutet: zunächst möchte Herr Sarrazin mit diesem Zusatz sein wahres Gesicht verbergen. Er möchte bei dem Leser den Eindruck erzeugen, als würden seine theoretischen Behauptungen von den theoretischen Behauptungen der Rassisten abweichen. Dass hier keine Abweichung vorhanden ist, haben wir in den vorigen Absätzen gesehen.

  • Weiterhin glaubt er, durch diesen Zusatz sich und seiner gesamten Theorie den Anschein von Seriosität und Wissenschaftlichkeit verleihen zu können. In seiner Naivität glaubt Herr Sarrazin, dass er dies besonders gut durch die Quantifizierung seiner Behauptungen (“50 bis 80 Prozent” !) schaffen könne.

  • Er benötigt diesen Zusatz aber auch noch, um allen Gegenargumenten, die von wissenschaftlicher Seite gegen seine Theorie der Vererblichkeit der Intelligenz erhoben werden und die objektiv nicht zu widerlegen sind, auszuweichen, indem er diesen Gegenargumenten einen Restplatz in seiner Theorie zuweist.

Nun wollen wir der Frage nachgehen, wie und wo Herr Sarrazin das Postulat der Vererblichkeit der Intelligenz für die Weiterentwicklung seines Gedankensystems überhaupt benötigt.

Die Vererblichkeit der Intelligenz bildet für Herrn Sarrazin den zentralen Ausgangspunkt für eine Vielzahl von weiteren Gedankengängen, die systematisch aufgebaut sind und die sich stets von neuem auf die Vererblichkeit der Intelligenz berufen. Diese Gedankengänge sollen im Folgenden kurz festgehalten und erläutert werden:

  1. Unterschiede in den“Fähigkeiten des Gehirns”, “geistigen Fähigkeiten” sowie “Persönlichkeitsmerkmalen”

    Er behauptet, dass die einzelnen Menschen, die gesellschaftlichen Schichten und die Völker unterschiedliche “Fähigkeiten des Gehirns”, “geistige Fähigkeiten” sowie “Persönlichkeitsmerkmale” besitzen. Dies beinhaltet nach Herrn Sarrazin beispielsweise Unterschiede in der “Intelligenz”, im “Temperament”, in der “Begabung”, in der “Mentalität”, in den “Traditionen” und im “Charakter” der Menschen. Wichtig aus Sicht von Herrn Sarrazin ist, dass diese Unterschiede naturgegeben, vererblich und nicht zu beseitigen sind.

  2. Zusammenhang zwischen Unterschieden in den “Fähigkeiten des Gehirns”, “geistigen Fähigkeiten” sowie “Persönlichkeitsmerkmalen” und den Erfolgen der Menschen in allen Bereichen der Gesellschaft

    Er behauptet, dass die Erfolge der Menschen in allen Bereichen der Gesellschaft - sei es - im schulischen, beruflichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bereich - im Zusammenhang mit den “Fähigkeiten des Gehirns”,  den “geistigen Fähigkeiten” sowie den “Persönlichkeitsmerkmalen” der Menschen stehen. Das bedeutet in Zusammenhang mit Punkt 1 zugleich auch, dass die Unterschiede in den Erfolgen der Menschen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft auf den Unterschieden in den “Fähigkeiten des Gehirns”,  der “geistigen Fähigkeiten” sowie der “Persönlichkeitsmerkmalen” beruhen und dass Unterschiede in den Erfolgen ebenfalls naturgegeben und nicht zu beseitigen sind.

  3. Natürlichkeit und Unvermeidbarkeit der Existenz von Schichten und Klassen in der Gesellschaft

    Nach Herrn Sarrazin gilt auch Folgendes: Entsprechend der(naturgegebenen, vererblichen und nicht zu beseitigenden) Unterschiede in ihren “Fähigkeiten des Gehirns”, ihren“geistigen Fähigkeiten” sowie ihrer“Persönlichkeitsmerkmale” und den damit verbundenen unterschiedlichen Erfolgen in allen Bereichen der Gesellschaft gruppieren sich die Menschen in unterschiedlichen Schichten und Klassen. Somit ist die Existenz von Schichten und Klassen in der Gesellschaft ebenfalls naturgegeben und nicht zu beseitigen.

  4. Natürlichkeit und Unvermeidbarkeit von sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft

    Weil die Existenz von Schichten und Klassen naturgegeben und nicht zu beseitigen ist, sind die sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft ebenfalls naturgegeben und nicht zu beseitigen.

  5. Natürlichkeit und Unvermeidbarkeit von Ungleichheit zwischen den Völkern

    Doch damit nicht genug. Seine gesamte bisherige Logik überträgt Herr Sarrazin auch auf die Ebene der Völker. Zum einen behauptet er, dass sich die durchschnittlichen Intelligenzquotienten der verschiedenen Völker untereinander unterscheiden. Zum anderen behauptet er, dass es einen Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Intelligenzquotienten eines Volkes und seinem ökonomischen Erfolg gibt. Wer wie Herr Sarrazin A und B zusammenzählen kann, dem drängt sich aus diesen beiden Behauptungen die Schlussfolgerung auf, dass die zwischen den Völkern vorhandenen Ungleichheiten naturgegeben und nicht zu beseitigen sind.

Aus diesen eben systematisch dargestellten theoretischen Gedankengängen ausgehend kommen im Buch von Herrn Sarrazin viele weitere Themen zur Diskussion. Genauso wie bei den theoretischen Gedankengängen von Herrn Sarrazin haben seine Behauptungen hinsichtlich dieser Diskussionsthemen weder mit der Realität und noch mit wissenschaftlichem Denken zu tun.

  • Es ist auffallend, dass er an vielen Stellen seines Buches durch Diffamierungen und Beleidigungen des Islam und verschiedener Völker - insbesondere von Türken und Arabern, von anderen Völkern aus dem Nahen- und  Mittleren Osten, von schwarzen Völkern aus Afrika - diese herabsetzt, sie in einen schlechten Ruf bringt und die einheimische Bevölkerung gegen sie aufhetzt.

    • Er behauptet, dass zwischen dem Terrorismus, der Kriminalität und der Gewalt einerseits und dem Islam andererseits ein wesentlicher Zusammenhang existiert und versucht Terrorismus, Kriminalität und Gewalt mit dem Islam als Religion zu erklären und zu begründen.

    • Er behauptet, dass viele Muslime Sozialleistungen deshalb in Anspruch nehmen würden, weil sie Muslime seien, nicht etwa weil sie arm seien. Er versucht also die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch diese Menschen mit der Religion dieser Menschen zu begründen und zu erklären.

    • An mehreren Stellen seines Buches versucht er die Straftaten, die Menschen begehen, mit der ethnischen Herkunft und der Religion dieser Menschen zu erklären.

  • In seinem ganzen Buch hat Herr Sarrazin permanent eine feindliche Haltung gegenüber sozial schwachen und armen Menschen in der Gesellschaft. Besonders deutlich und scharf stellt er sich gegen die Empfänger von Sozialhilfe, der Grundsicherung und von Hartz IV-Leistung. Gerade in diesem Bereich werden die wirtschaftlichen und gesellschaflichen Grundlagen seiner ideologischen und politischen Vorstellungen sichtbar.

Herr Sarrazin hat in seinem Buch gesellschaftliche Phänomene wie Volk, Staat, Gesellschaft, Familie, Schichten, Klassen, Kultur, Religion, Sprache, “Fähigkeiten des Gehirns”, “geistige Fähigkeiten”, “Persönlichkeitsmerkmale” der Menschen usw. biologisiert und versucht, diese Phänomene “mit Hilfe pseudowissenschaftlicher Analogieschlüsse aus der Biologie zu erklären”.

Er hat versucht, gesellschaftliche Phänomene und Ereignisse mit rassistischen Theorien zu erklären. Die Ansichten und Behauptungen in seinem Buch stützen sich gänzlich auf rassistische Theorien.

Herr Sarrazin hat versucht, die ideologische Grundlage und somit eine theoretische Rechtfertigung für die - aus seiner Sicht naturgegebene und nicht zu beseitigende - innere und äussere Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen, Schichten und Klassen in der Gesellschaft sowie der Völker auf der Welt zu erschaffen.

Die Ideologie und die politischen Meinungen, die er besitzt, vertritt, verteidigt und propagiert, sind mit der Sozialdemokratie und mit den Grundsätzen der SPD unvereinbar.

Als das Buch von Herrn Sarrazin veröffentlich wurde, hätte er nach den Artikeln 2, 4 und 6 des Organisationsstatutes der SPD aus der SPD ausgeschlossen werden müssen. Das ist durch den SPD Bundesvorstand leider nicht veranlasst worden. Das Buch von Herrn Sarrazin liegt immer noch vor und verstößt immer noch permanent gegen die Grundsätze der Sozialdemokratie und der SPD. Herr Sarrazin muss daher nach den Artikeln 2, 4 und 6 des Organisationsstatutes der SPD aus der SPD ausgeschlossen werden.

 

Metin Özdemir

      -Jurist -

Berlin, 09.11.2012

 

 

 

 

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Literaturverzeichnis:

Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab, wie wir unser Land aufs Spiel setzen, 1. Auflage, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Nohlen, Dieter (1995): Lexikon der Politik, Band 1 Politische Teorien,  S. 497, Herausgegeben von Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze, Büchergilde Gutenberg Frankfurt am Main

Philosophisches Wörterbuch (1975): 11. Auflage, Band 1, S. 227, 228,  Band 2, S. 1009, 1010 und 1113,  Herausgeber: Georg Klaus, Manfred Buhr, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig

Weber-Fas, Rudolf (1995): Das kleine Staatslexikon, S. 403, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Stuttgart

Holtmann, Everhard (2000): Politik-Lexikon, S. 567, R. Oldenburg Verlag, München-Wien

Nohlen, Dieter / Grotz, Florian (2007): Kleines Lexikon der Politik, S. 459-460, Bundeszentrale für politische Bildung, schriftenreiche Band 759, Verlag C. H. Beck  oHG, München, 2007.

1978 Kritik der Ideologie des Neofaschismus, S. 88, Redaktion der Originalausgabe: J. D. Modrshinskaja, N. W. Mostowjez, W. I. Zapanow; Übersetzer: Gertrud Lehmann, Christine Broszeit, Josef Görbert,  Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin

Organisationsstatut der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Stand: 14. November 2009,  s. 9, 10, 11, 13, Herausgeber: SPD-Parteivorstand, Wilhelmstrasse 141, 10963 Berlin, www.spd.de – Druck: Braunschweig Druck GmbH, 38112 Braunschweig, Art. Nr. 8700000

 

 

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